Die Verlagsgruppe Oetinger zieht um. Was vielleicht zu einer Fußnote im allgemeinen Nachrichtengeschehen gereicht hätte, hat doch eine ganz besondere Brisanz. Denn Oetinger geht für die Branche bisher ungewöhnliche Wege - feste Arbeitsplätze für die 120 Mitarbeiter entfallen, auch für die Geschäftsleitung. In der neuen Firmenzentrale gibt es zukünftig Zonen für Workshops, Brainstormings und gemeinsame Pausen und Rückzugsbereiche für ruhiges, konzentriertes Arbeiten. Chapeau für so viel disruptiven Spirit!
Eine Strategie die aufhorchen lässt. Zum einen sicherlich weil ein solch ehrwürdiges Verlagshaus einen solch radikalen Ansatz wählt und zum anderen vielleicht, weil dieser Ansatz gar nicht so radikal ist, sondern betriebswirtschaftlich mit ganz handfesten Vorteilen verbunden ist. Die derzeitige Lage ist auch der größte jemals stattfindende Test für eine radikale Veränderung der Arbeitswelt. Nicht freiwillig und erzwungen zwar, aber dennoch überaus aussagekräftig. Seit Monaten arbeiten nun alle im Home-Office und/oder in Schichten in den jeweiligen Büros. Und was ist passiert? Nichts. Die Welt ist nicht untergegangen. Man hat sich arrangiert und das Business läuft ebenso weiter wie bisher. Nur anders.
Wird nun endlich ein ganz großer Arbeitnehmertraum wahr? Die Möglichkeit zeitlich flexibel dort zu arbeiten, wo man will. Ich sehe mich gerade als digitaler Nomade vor meinem VW T1 Camper am Strand sitzen ...mit dem Laptop auf dem Schoß. Sorry, ich schweife ab. Ja, vielleicht. Ganz sicher aber bekommen gerade die Controller feuchte Augen. Das alles birgt ein gigantisches Potenzial für Kosteneinsparungen. Wenn das alles so funktioniert, brauchen Unternehmen dann noch Bürogebäude in dieser Größe? Können nicht vielleicht Kosten in ungeahnter Höhe schnell und einfach eliminiert werden? Mieten runter, Energiekosten (Strom, Heizung, Wasser) runter, Kosten für Büroausstattung runter, Fahrtkostenzuschüsse Dienstwagen runter. Und und und. Wer als großes Unternehmen jetzt behauptet sein Controlling hätte hier noch nicht den Taschenrechner angeworfen, der flunkert vielleicht ein bisschen.
Stellen wir uns mal die Auswirkungen auf den Immobilienmarkt vor, dessen Blase jetzt schon gefährlich nahe am Platzen steht. Drastisch sinkende Mieten, zunehmende Leerstände, abspringende Investoren, Leerstände bei Gewerbeimmobilien. Und auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird das nicht ganz ohne Folgen bleiben. Und so mancher Traum wird sich als echte Herausforderung entpuppen. Zum einen geht´s darum wie Berufsleben und Kinder und Familie zukünftig (räumlich) langfristig unter einen Hut zu bringen sind. Halten Partnerschaften diese Nähe aus, wenn schon der Urlaub eine jährliche Bewährungsprobe ist? Und zum anderen geht es darum, was passiert mit den Kosten? Denn die sind in diesem Falle nicht plötzlich verschwunden, sondern wurden vom Unternehmen auf die Mitarbeitenden verlagert. Das Arbeitszimmer, die Heizung, den Strom, das Telefon, das Internet all das trägt plötzlich die Arbeitnehmerschaft. Ja, es gab schon mal eine Zeit als Büroangestellte die Kohlen für´s Feuer selbst mitbringen mussten, wenn sie es warm haben wollten.
Sollte es flächendeckend zu einer solchen Entwicklung kommen (müssen), dann wird sich so manche(r) vielleicht die Zeiten des externen Office zurück wünschen - aus ganz vielen Gründen. Vieles wird neu verhandelt werden müssen. You never know. Wir werden es erleben.
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